An: alle Niedergelassenen ÄrztInnen

Von: Kurienobmann Niedergelassene ÄrztInnen



Sehr geehrte Frau Kollegin !
Sehr geehrter Herr Kollege !


Als Kurienobmann der Niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte der Ärztekammer für Wien wende ich mich heute mit einem ganz persönlichen Schreiben an Sie.

Jetzt ist er also doch da: Der sagenumwobene Vorschlag der "Sozialpartner" zur "Sanierung" des Gesundheitssystems! Alle haben wir mit Grauslichkeiten gerechnet, aber trotzdem macht die Realisierung betroffen. Offensichtlich will die Politik unser derzeitiges Gesundheitssystem eliminieren. Das Papier, das von den Sozialpartnern Wirtschaftskammer und Gewerkschaftsbund am Montag, den 7. April 2008 präsentiert wurde, stellt einen in der 2. Republik einzigartigen Meilenstein des Rückschritts dar. Immerhin haben es in den Grundzügen zwei Vertreter der sogenannten Sozialversicherung verfasst: Karlheinz Kopf und Franz Bittner. Darin enthalten sind alle Grässlichkeiten aus den mentalen Verliesen der Hauptverbands-Bürokratie. Wirklich bekümmert machen nicht die Ideen an sich, diese Absonderungen ist man ja von selbstgefälligen Bürokraten gewohnt. Erschreckend ist, dass jetzt Vertreter des angeblich modernen Wirtschaftsdenkens, aber auch Menschen, die sich sozialem Gedankengut verpflichtet fühlen, solche monströse gesellschaftspolitische Ideen überzeugt vertreten.

Die aktuelle Debatte um unser Gesundheitssystem geht in die völlig falsche Richtung. Jahrzehntelang versuchten verantwortungsbewusste Politiker - auch Gewerkschafter und Wirtschafttreibende - gemeinsam mit den Ärzten und deren Standesvertretung ein Gesundheitssystem zu errichten, dass allen Bürgern dieses Landes zu Gute kommen sollte - und zwar unabhängig von Einkommen und sozialer Position. Das waren Staatsmänner, und es bestand sozialpartnerschaftlicher Konsens über eine solidarische Mittelaufbringung und eine Konsensfindung zwischen den Interessen der Kassen und der Ärzteschaft, immer den Patienten vor Augen habend. So, und nur so, wurde eines der besten Gesundheitssysteme der Welt aufgebaut.

Heute sollen diese Prinzipien über Bord geschmissen werden. Denn was sind die Eckpunkte dieses Papiers, das WKÖ und ÖGB den ÄrztInnen und PatientInnen zumuten wollen:

  1. Es soll zur Abschaffung der Kollektivverträge im Gesundheitswesen kommen. Die Ärzteschaft soll erpresst werden. Das geht so: Erzielen die Krankenkassen keine Einigung mit der Ärztekammer, schließen sie entweder Fachgruppen- oder überhaupt gleich Einzelverträge ab. Den Druck auf den Einzelnen kann man sich vorstellen. Interessant ist, dass gerade der ÖGB diesen Vorschlag macht. Wir dürfen auf die Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst gespannt sein, wenn die Arbeitgeberseite dasselbe Argument verwendet und Einzelverträge mit Metallern und Druckern will. Laut ÖGB ist das ja vollkommen in Ordnung. Dass damit die Versorgung nicht mehr sichergestellt werden kann, da ja niemand auch nur ansatzweise sagen kann, wo sich Kolleginnen und Kollegen bereiterklären werden, zu diesen Bedingungen zu arbeiten, und dass damit die fundamentalsten Richtlinien eines öffentlichen, objektiven Vergaberechts einfach ignoriert werden, scheint niemanden zu stören
  2. Die besondere Perfidie am Anschlag auf die Ärzteschaft ist diese: Die Ärzte sollen ab sofort gegen die Patienten ausgespielt werden. Verträge sollen nämlich kündbar werden, wenn sich der Arzt bei der Behandlung nicht "ökonomisch" verhält bzw. fortbildet. Das wurde ohne großen Aufschrei (außer von uns Ärzten) in den Medien breit getreten. Der sogenannte Patientenanwalt Gerald Bachinger hat das Papier sogar bejubelt und sehnt sich nach dem britischen Modell, wonach eine Leistung überhaupt erst dann honoriert wird, wenn die Therapie erfolgreich war. Aber was bitte bedeutet das? Wir sind verpflichtet, für unsere Patienten die beste Behandlung anzuwenden. Die Politik will aber ab sofort einen Kündigungsgrund konstruieren, wenn man die beste Behandlung und nicht die billigste wählt. Man will uns die Ethik rauben, Hauptsache es ist billig.
  3. Wir sollen außerdem zukünftig nur mehr Wirkstoffe und keine Medikamente mehr auf die Rezepte schreiben. Die Apotheke muss dann das billigste Medikament aushändigen. Das bedeutet, dass dieses Medikament auch jedesmal ein anderes sein kann. Chaos für Patienten, die auf bestimmte Medikamente eingestellt sind.
  4. Freie Kassenplanstellen sollen nicht mehr nachbesetzt werden. Patienten verlieren ihre Hausärzte, und die wohnortnahe Versorgung ist dann nichts weiter als ein Lippenbekenntnis. Gerade die große Ärztedichte in Wien hat zur Weltklassemedizin beigetragen und ist zudem keinesfalls höher als in vergleichbaren europäischen Städten.
  5. Gleichzeitig will man aber auch die Wahlarztrückersätze einschränken. Hier schwingt wohl die Angst mit, dass wir standhaft bleiben und uns nicht von der Kasse ethisch und finanziell knebeln lassen. Also will man gleich wieder die Patienten strafen, indem man diesen den Kostenrückersatz reduziert bzw. streicht.
  6. Die Sozialpartner, die sich für das Papier erwartungsgemäß von altbekannten "Gesundheitsökonomen" feiern ließen, schlagen mehr als 160 Millionen Einsparungen bei den ärztlichen Leistungen vor. Wo genau, sagen sie freilich nicht. Aber eines ist schon klar: Auf Kosten der Patienten soll es nicht geschehen. Jeder, der das Gesundheitssystem kennt und bei Verstand ist, weiß, dass das eine glatte Lüge ist. Wir haben schon heute im Leistungskatalog schwer veraltete Positionen, und könnten den Patienten Besseres anbieten. Doch anstatt darüber zu verhandeln, fährt der Zug der Politik in die entgegengesetzte Richtung. Das bestehende System soll zur - kosteneffizienten - 2-Klassen-Medizin umgebaut werden.

Man kann nur mutmaßen, wieso man in der Sozialpartnerschaft so eine Entwicklung auf beiden Seiten akzeptiert. Haben sich die beiden großkoalitionären Machtblöcke hier nur ihre Claims neu abgesteckt? Wo ist die christliche Soziallehre der ÖVP, wo ist das soziale Gedankengut der SPÖ? Dass die geistigen Väter dieses Papiers hochrangige Vertreter der Sozialversicherung sind, ist eigentlich ein Skandal. Julius Tandler würde sich angesichts dieser Pläne wohl im Grabe umdrehen!

Klar ist, dass wir diese - man muss sie so nennen - unmenschlichen "Vorschläge" der Sozialpartner ablehnen. Wir werden dagegen kämpfen, und dabei alle legitimen Mittel, die uns nur irgendwie zur Verfügung stehen, ausnutzen. Es wird wichtig sein, dass wir noch viel konsequenter als bisher und mit einer Stimme für den Erhalt unseres Gesundheitssystems eintreten. Es geht darum, dem Patienten ein System zu erhalten, das bisher international die Goldmedaille abräumte, sowohl hinsichtlich Qualität, aber auch bezüglich effizienten Kosteneinsatzes. Es geht darum, eine Qualität im ärztlichen Tun zu erhalten, die in der Haltung des einzelnen Arztes wurzelt und nicht in abstrusen Vorschriften, die unqualifizierte Bürokraten erfinden und uns aufdrücken wollen, um ihren Machtanspruch zu erhalten.

Dass genau solche Leute uns erklären wollen, wie wir uns medizinisch zu verhalten haben, ist beschämend. Dass die Medizin bis heute ein derart hohes Niveau erreicht hat, war sicher nicht das Verdienst von Technokraten, selbsternannten Experten oder gar aktuellen Sozialversicherungsfunktionären. Das System wurde vor allem von Ärzten aufgebaut. Die Gesellschaft sah das bisher auch immer so. Auch laut Gesetz sind immer nur wir für den Patienten verantwortlich, kein Politiker und auch kein Patientenanwalt! Interessant ist, dass uns die großen Architekten des Radikalumbaus, die sich jetzt öffentlich wichtig machen und mit ihren kurzsichtigen Ansichten Schlagzeilen produzieren, die Verantwortung für die Patienten nicht übernehmen wollen. Diese Herrschaften putzen sich nach ihren "Rationalisierungsvorschlägen" ab und wollen es dann, wenn das System tatsächlich kollabiert, wieder nicht gewesen sein. Bei der Verantwortung geht der Finger immer in unsere Richtung. Die Verantwortung für die Patienten liegt immer noch ungeteilt bei uns Ärzten!

Wir wollen das auch so. Aber deshalb müssen wir uns auch in der Form zu Wort melden, wie wir das bereits getan haben. Wir werden nicht ruhen, bevor wir diesem Paket alle Giftzähne gezogen haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir die einzigen sind, wir treten für den Erhalt dieses solidarischen Gesundheitswesens ein. Dafür müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten unsere Kräfte bündeln - und dabei ersuche ich auch Sie um Ihre tatkräftige Unterstützung. Nur so können wir weiterhin erhobenen Hauptes die Verantwortung für unsere Patienten übernehmen.



Mit kollegialen Grüßen

Ihr Johannes Steinhart
Kurienobmann Niedergelassene ÄrztInnen
Ärztekammer für Wien

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